Was können wir von
erfolgreichen Hotels lernen?

Inszenierung gehört heute fest zur Retail-Strategie starker Marken. Gleichzeitig sind alle Branchen herausgefordert, neue Ansprüche an das Kundenerlebnis zu erkennen und zu gestalten.

Inspiration für beides finden wir auch bei neuen Hospitality-Konzepten, die Trends in Design, Technologie und Service setzen. Zwei Aficionados sind für uns gereist, haben diskutiert und skizziert. Das Ergebnis ist so angriffslustig wie wertvoll: 10 Thesen über gastfreundliche Architekturen – und die Customer Journeys von morgen.

Raphael Gielgen (Innenarchitekt und Trendscout)

180 Tage im Jahr ist Raphael Gielgen unterwegs. Als Innenarchitekt, ‚New Work‘- Trendscout für Vitra – und beruflicher Hotelgast. Dabei untersucht er Einfluss und Wirkung physischer Orte auf den öffentlichen Raum und die Gesellschaft: von Hotel oder Restaurants über Büros und Co-Working Spaces bis zu den angesagtesten Retailflächen.

Lisa Hassanzadeh (Head of Interior, concrete Amsterdam)

Innenarchitektin Lisa Hassanzadeh ist überzeugt: Gerade Hospitality brauche immer den Willen, danach zu fragen, was anders und besser geht. Mit ihrem Amsterdamer Architekturbüro concrete hat sie die Designhotelkette citizenM initiiert und gestaltet neben Hotels für Lifestylemarken vor allem Wohn-, Büro-, Retail- und Gastronomiekonzepte.

1. GASTLICHKEIT KOMMT DIR ENTGEGEN.

LH Die Customer Journey beginnt bei den Leuten zu Hause, beim Buchungsportal. Und geht bei der Reise weiter: Ich will ja schon da sein, bevor ich da bin. Die Verkehrsmittel der nahen Zukunft werden gemeinschaftlicher, autonomer und komfortabler. Wir haben Ruhe, uns auf unser Reiseziel einzuschwingen. Das Hotel kommt mir dabei am besten entgegen. Zum Beispiel kann es mich schon vor der Ankunft mit einer elektronischen Ausgabe der Tageszeitung meines Reiseziels begrüßen. Die digitalen Möglichkeiten bieten hier sehr viel Spielraum.

RG Wir müssen uns der Frage neu stellen: Wo fängt Hospitality an? In der Lobby, am Empfangstresen? Ich glaube, das Hotel muss schon Hotel sein, bevor es physisch wird.

2. REZEPTION LEBT VON RITUALEN.

LH Rezeption sollte nicht heißen, dass man von einer Warteschlange am Front Desk begrüßt wird und dann mit einer Person hinter einem Bildschirm Papiere ausfüllen muss. Darum haben wir damals für citizenM den digitalen Check-in ins Leben gerufen.

Die Sehnsucht nach einer menschlichen Ansprache in der digitalisierten Welt ist groß. Raphael Gielgen

RG Die Gefahr der Automatisierung ist, dass wir etwas übersehen und nicht mehr pflegen. Und das sind Rituale. Damit beginnt das Reisen, dass in einer aufregend fremden Umgebung ein Gastgeber auftritt, dich in seinem Dialekt fragt, ob du das Haus kennst. Dich herumführt. Dir das Gefühl gibt: Schön, dass du bei uns bist! So konnte Airbnb erfolgreich werden. Weil die Leute es satt hatten, in anonymen Häusern zu schlafen. Die Sehnsucht nach einer menschlichen Ansprache in der digitalisierten Welt ist groß.

LH Die digitalen Technologien müssen natürlich dafür eingesetzt werden, alle bürokratischen Barrieren zwischen Gast und Gastgeber zu entfernen. Dann haben die Mitarbeitenden auch mehr Zeit für Rituale. Der Unterschied ist, dass ich selbst wählen kann, wie viel Kontakt und Hilfe ich will. Es geht um die Selbstbestimmtheit, wie ich meine Zeit verbringe.

3. HOTELS REAGIEREN AUFS ZEITKONTO.

LH Hotels müssen auf eine bestimmte Lebenseinstellung zugeschnitten sein. Man sollte nichts bauen, was jedem entsprechen will. Aber auch innerhalb einer klaren Zielgruppe verhalten sich die Leute variabel: Manchmal benutzt man das Hotel als reine Schlafkapsel für eine Nacht, manchmal für den Urlaub. Das Zeitkonto entscheidet. Aber es bleibt mein Hotel.

RG Wenn ich auf Durchreise bin, brauche ich wirklich nur eine Art Expressmenü für Übernachtungen. Kann die Architektur so stark sein, wirklich beides anzubieten?

LH Natürlich kann man auch bis zum Capsule-Hotel minimalisieren. Aber die sind nur etwas für Flughäfen oder Bahnhöfe. Im Normfallfall bist du, auch wenn du eigentlich nur Dusche und WLAN brauchst, froh, wenn du an ansprechenden Räumen vorbeiläufst. Wenn du Leute in der Lobby siehst, die anders ticken. Und wenn dich dein Hotelzimmer trotz seiner nur zehn Quadratmeter mit stadttypischem Design und Services überrascht.

4. DEIN ZIMMER HAT EINEN FLUGMODUS.

LH Besucher von Innenstadthotels sind oft Geschäftsreisende, deren Reisen sehr eng getaktet sind. Die wenige freie Zeit entfällt fast vollständig aufs Hotel. Und wenn man sich die schön gestalten will, wird der Ort des Abendessens und Schlafens sehr wichtig.

RG Das ideale Zimmer für mich hieße: ganz weit oben, Blick auf die Stadt. Auf keinen Fall Hinterhof. Ein Bad, das nicht abgekapselt ist, sondern sich in die Zimmerlandschaft einfügt. Ein Schreibtisch mit Blick aus dem Fenster. Und alle Steckplätze für meine elektronischen Geräte sind vorbereitet.

LH Jedes Hotelzimmer sollte zukünftig auch einen Off-Button haben, mit dem man alle digitalen Anwendungen ausschaltet. Eine Art Flug- oder Ruhemodus. Denn ich bezweifle, dass das Grundbedürfnis der Menschen die Vernetzung ist. Offline ist der neue Luxus.

5. ENTDECKER KÖNNEN DRINNENBLEIBEN.

RG Ich mag es, wenn Restaurant, Bar und Lobby auf einer Ebene sind und man sich frei durch die Räume tasten kann. Räume, die Vielfalt bieten: Ich setze mich entweder an einen großen Tisch zu anderen Gästen oder ziehe mich in eine Nische zurück. In jedem Fall brauche ich gute Sichtachsen und eine Topografie. Dass ich was entdecken kann.

LH Wir versuchen immer Hotels zu bauen, die stark ins Milieu eingebunden sind. Selbst wenn man drei Tage das Haus nicht verlässt, sollte man fühlen, in welcher Stadt, welchem Land man ist. Auch ohne Blick nach draußen. Man kann das natürlich baulich trennen: Zimmer sind modularer Standard, öffentliche Flächen sehr nah am Kontext gestaltet. Aber bevor man irgendwelche Möbel aussucht, ist wichtig: Was sind die Charaktereigenschaften dieser Umgebung?

6. DIE STADT KOMMT ZU DIR.

RG Die geografische Lage mit dem umliegenden Ökosystem bestimmt mehr und mehr, wofür Kunden bereit sind zu zahlen. Sie wollen eine bestimmte Ecke der Stadt kennenlernen und fühlen. Wenn wir also einen Public Space wollen, dann müssen wir diesen auch öffentlich gestalten. Damit Gäste am Stadtleben teilhaben können.

LH Einige Hoteliers beginnen zu verstehen, dass man dafür investieren sollte. Mit manchen sind wir schon sehr konsequent unterwegs. Dass alles, was bei ihnen angeboten wird, direkt aus dem Stadtviertel kommt – vom Bier bis zur Seife. Wir fragen auch: Warum würde ein Hotelgast dieses Hotel verlassen? Genau dieses Angebot holt man sich stattdessen ins Haus. Das kann so weit gehen, dass man die angesagteste Bar der Stadt betreibt. So kommt die Stadt zu uns ins Hotel, statt umgekehrt.

7. DAS HOTEL IST EIN DORF.

RG In fünf Jahren wird es kein größeres Bebauungsplanverfahren mehr ohne Co-Kreation mit der Nachbarschaft geben. Ob Neue Mitte Bremen, Hammerbrooklyn in Hamburg oder die Stadt Toronto, die mit Google auf diese Weise baut – das Prinzip macht jetzt Schule. Auch das Hotel wird nicht exklusiver, sondern inklusiver.

LH Es kann sich die Nachbarschaft auch erst um den Hospitality-Ort formen. Weil er ihr ein Zentrum verleiht, das es vorher noch nicht gab. Mit Bar, Café, Schwimmbad, Reinigung und Gemeinschaftsgarten. Im suburbanen Raum haben wir solche Mischformen aus Wohnungskomplex und Hotel bereits umgesetzt. Eigentlich baut man ein Dorf mit öffentlich geteilten Angeboten. Einen eigenen Mikrokosmos.

RG So etwas ist wirklich ein Public Space. Alle genießen die Vorteile des Standorts. Wenn ich von dort aus noch überall hinkomme, ist das auch für sehr mobile Reisende eine gute Alternative. Können wir so etwas auch auf Innenstadtbezirke übertragen?

LH Mit Zoku in Amsterdam passiert das schon. In dichteren Cities wie New York wäre es wohl eher ein vertikales Dorf. Und für die Aufenthaltsdauer lösen wir die Grenzen gleich mit auf. Du kannst dein Studio für eine Nacht oder ein ganzes Jahr mieten. Je länger du bleibst, umso mehr kannst du von den „Dorfaktivitäten“ profitieren, vom Kochkurs bis zum Urban Farming.

8. DER POOL WIRD ZUM BÜRO.

RG Um zukunftsfähig zu bleiben, sollten Orte der Gastfreundschaft mehr experimentieren, welche Branchen sie integrieren und verbinden können.

LH In vielen Lobbys wird bereits Co-Working stimuliert.

RG Dafür kann das Hotel seine Infrastruktur – Lobby, Lounge, Café, Bar – aber noch viel gezielter nutzen. Bei einem Neubau in einem interessanten Distrikt kann man auch eine Etage für kreative Co-Working-Flächen einplanen. So etwas macht ein Innenstadthotel vitaler und auch für die Übernachtungsgäste attraktiver. Sie merken: Hier passiert ja richtig was! Und die Tagesgäste können abends Spa und Gym mitnutzen, ohne den Ort zu wechseln. Oder sie können gleich im Poolbereich arbeiten.

LH Auch Concept Stores werden eine größere Rolle spielen. Stell dir das Hotel als One-Stop-Shop vor, in dem du dich mit dem Lebensstil der Stadt bekanntmachst und eindeckst.

9. GRETA SAGT, WAS LUXUS IST.

LH Wir sind heute alle etwas globalisierungs- und konsummüde. Der Luxus von morgen ist Diversität. Es muss nicht überall alles verfügbar sein. Stattdessen setzt konsequent lokales Denken neue Kreativität frei. Ich arbeite mit einem Chefkoch in Baltimore, der in seinem Restaurant ausschließlich mit Zutaten aus einem Umkreis von 100 Meilen wirtschaftet. Er verzichtet sogar auf Olivenöl. Sein Essen schmeckt wie die Umgebung. Das macht es besonders. Das macht das Erlebnis luxuriös.

Der Luxus von morgen ist Diversität. Lisa Hassanzadeh

RG Es gibt ja die UN-Nachhaltigkeitsziele. Wasser, Ernährung, Arbeitsschutz … Jede größere Hotelkette nimmt sich dieser Themen bereits an – oder sollte es. Denn das wird bis 2030 der TÜV, absoluter Standard. Diese maximale Verortung, wie du sie skizzierst, ist dann die Meisterschule.

10. ERFOLGREICHE HÄUSER TEILEN EINE GESCHICHTE.

RG Ein Hotel hat die Verpflichtung, Menschen zu verorten. Es zieht Leute an, die ähnliche Wertvorstellungen teilen. Gibt ihnen ein Zuhause, eine Community. Früher hat genau das schon stattgefunden. Die Grand Hotels der Belle Époque waren soziale Kulturorte – Vorläufer heutiger Shared Spaces. Die Branche wurde seitdem für den Erlebnistourismus durchoptimiert. Aber wir können diese Orte neu schaffen. Was es braucht, ist – wie auch im Retail und anderen Branchen – ein gutes Narrativ. Eine Geschichte, die den Kunden mit dem Mindset des Besitzers verbindet. Die er dem Haus anspürt, ansieht, anhört. Und das ist keine Frage des Geldes.