Wer Kuriert, Gewinnt!

Retail-Kunden suchen Erlebnisse, Relevanz und Bedeutungszusammenhänge. Das funktioniert am besten in einer gut kuratierten Produktwelt, nah dran am Lebensgefühl der Kundschaft.

Aber wie funktioniert gutes Kuratieren? Und was gehört neben dem Sortiment noch alles dazu? Inspiration haben wir direkt an der Quelle des Prinzips gesucht – und gefunden: im Museum.

Marco Dionisio (Interior Designer und Inhaber der dioma ag)

Er liebt es einfach, stilvoll zu verkaufen. Große Kaufhäuser wie das KaDeWe in Berlin, Globus und PKZ in Zürich oder Kastner & Öhler in Graz und Innsbruck ziehen ihn darum zu Rate: Marco Dionisio und seine 2001 in Bern gegründete ‚dioma ag‘ entwickeln starke visuelle Auftritte und Strategien für den Handel. Besonders fokussiert das Büro Trendforschung, Visual Merchandising und Innenarchitektur. Daneben führt Dionisio auch ein eigenes Geschäft –‚Bonjour Verbier‘, eine Mischung aus Concept Store und Interior-Design-Studio für Chalet-Einrichtungen mitten in der Schweizer Bergwelt.

Stefan Zeisler (Kreativdirektor des KHM Museumsverband Wien/Innsbruck)

Drei Häuser gehören zum Kunsthistorischen Museum Wien, das mit stetig wachsenden Besucherzahlen (2018: 1,75 Mio.) eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt ist. Seit 20 Jahren ist der Fotograf Stefan Zeisler der Institution verbunden und verantwortet heute als Kreativdirektor die visuellen Auftritte aller dazugehörigen Standorte. Zu seinem Arbeitsfeld gehören auch neue gestalterische Ideen rund um die kaiserliche Schatzkammer und Kunstsammlung mit berühmten Gemälden von Caravaggio, Dürer, Rubens und Vermeer.

Stefan Zeisler, Kreativdirektor des KHM-Museumsverband in Wien, hat uns Einblicke gegeben, wie kreatives Kuratieren in seinem Haus funktioniert und wie Besucherbindung und Verkäufe davon profitieren. Marco Dionisio, der als Innenarchitekt und Berater für Kaufhäuser und Händler in Europa und darüber hinaus arbeitet sowie selbst einen Concept Store führt, reflektiert die Erkenntnisse direkt in ihrer Rolle für den Handel.

1. Herr Zeisler, was ist die Aufgabe eines Kurators?

SZ Museumsbesucher haben heute andere Ansprüche als noch vor 20 Jahren, vor allem an den Erlebnischarakter. Sie zahlen 16 Euro und erwarten eine Welt dafür. Und es ist unsere Aufgabe, als Kurator, Designer oder Kreativdirektor, diese Welt begehbar zu machen: von der Werbung über den Besuch bis zum Museumsshop – denn natürlich will man sich das Erlebnis auch mit nach Hause nehmen.

Wie leisten Sie das im KHM?

SZ Vor allem müssen wir den Leuten Geschichten auf Augenhöhe erzählen, passend zu ihren Lebenswelten. In einer kommenden Ausstellung werden wir mit unseren Exponaten die Entwicklung der Mode vom 14. bis ins 19. Jahrhundert aufzeigen. Würde ich die Bilder nur als historische Gemälde präsentieren, wären sie für die breite Masse kaum relevant. Wir müssen Verbindungen aufbauen, Themen aufbereiten und dafür auch aktuelle Diskurse aus Gesellschaft und Politik aufnehmen, zum Beispiel die Klimadebatte.

Kuratieren heißt Erzählen. Stefan Zeisler

2. Erkennen Sie eine Parallele zum Einzelhandel, Herr Dionisio?

MD Auch ein Department Store sollte immer den Anspruch haben, eigene Themen zu besetzen. Die großen Welten, die sich durchs ganze Haus ziehen, sollten wieder Schule machen. Das lässt sich heute durch temporäre Pop-up-Flächen wunderbar unterstützen. Es muss aber authentisch sein und überraschen, also nicht nur Halloween und Black Friday und andere globalisierte Stories, die tausendfach kopiert und gleich dekoriert werden.

Kann Kunst dabei eine Rolle spielen?

MD Für einige große Marken haben sich Kooperationen mit Designern und Künstlern sehr gelohnt, um hippe Lifestyle-Artikel zu lancieren. Was auf Produktebene gilt, gilt aber auch für die Geschäfte. Wir haben schon oft Schaufenster für Ausstellungen namhafter oder auch lokaler Künstler genutzt. Es muss natürlich zum Ort und zur Klientel passen, dann wird so etwas sehr geschätzt.

SZ Der KHM hat in Japan zusammen mit Kaufhäusern hochkarätige Kunstausstellungen organisiert. Das klingt für uns Mitteleuropäer total obskur und gefährlich, ist dort aber ganz normal. Es wird wie in einem Museum Eintritt verlangt und es zieht die Leute an.

MD Ich erinnere mich noch an die Eröffnung des Whitney-Museums in New York. Ich kam rein und war überrascht: Laute Musik tönte überall, auf den Stufen saßen junge Leute, Teenager standen vor den Bildern, machten Selfies. Ich hatte das Gefühl, ich bin auf der besten Party in der Stadt. Diese Ausstrahlung wünsche ich mir manchmal für den Handel: ein exklusives und zugleich sehr demokratisches Erlebnis für eine große Bandbreite an Leuten.

Die beste Party der Stadt… diese Ausstrahlung wünsche ich mir manchmal für den Handel. Marco Dionisio

SZ Genau das macht den Raum lebendig. Wir gehen darum im Museum auch auf sehr verschiedene Gruppen ein, machen zum Beispiel ein sehr dichtes Programm für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Du brauchst jemanden, der die Besucher individuell durch das kuratierte Erlebnis hindurchführt.

3. Wo genau beginnt das kuratorierte Erlebnis?

SZ Diese Frage muss man ganz brachial auf die Sicht der Besucher herunterbrechen. Natürlich haben wir unser „Fastfood“-Publikum. Die laufen in eineinhalb Stunden mit dem Tablet vor der Nase durch die Sammlung und schießen alles ab, was geht. Das ist auch okay. Aber es gibt eben auch die, die die ganze Woche gearbeitet haben und jetzt entscheiden sie, wo sie mit ihren zwei Kindern den Samstagnachmittag verbringen: im Schwimmbad, im Prater oder im Museum. – Wir konkurrieren ja nicht nur mit anderen Museen.

MD Das empfehle ich unseren Kunden auch. Sie sollen schauen, mit welchen situativen Bedürfnissen die Leute bei ihnen auftauchen – und wie andere Institutionen darauf eingehen. Wie machen Sie der Familie den Besuch bei Ihnen schmackhaft?

SZ Der Schlüssel ist bei uns oft das Kinderprogramm. Die Eltern sind frei, bekommen Momente der Erholung, eine Führung passend zu ihren eigenen Interessen. Danach wollen sie natürlich einen Kaffee trinken – und sie suchen noch ein Geschenk für eine Geburtstagsfeier am nächsten Tag. Das finden sie im Museumsshop. Dann holen sie die Kinder wieder ab. Menschen können bei uns verschiedenste Bedürfnisse stillen: Information, Essen, Entspannung, ein ganzes Package an schönen Eindrücken und Erlebnissen und ein paar Dinge, die sie daran erinnern. Das ist ein konkurrenzfähiger Nachmittag.

Wir kuratieren einen ganzen Tag. Stefan Zeisler

MD Davon kann sich der Einzelhandel inspirieren lassen. Es ist nur wichtig, dass sich jeder auf seine Stärken konzentriert, ohne zu kopieren. Es ist eine neue Kreativität gefragt: Ideen, Ideen und nochmal Ideen. Vieles wird ja schon ausprobiert, ein tolles Café oder Restaurant ist in den Warenhäusern nichts Neues. Aber auch hier haben wir die Aufgabe, es neu zu interpretieren und zusammen mit der Produktwelt stärker zu einem Gesamterlebnis zu verbinden.

SZ Es kommt auch darauf an, dass sich die Leute wohlfühlen. Manche genießen vielleicht nicht am meisten den Rubens an der Wand, sondern die Couch vor dem Gemälde. Und die sollte bequem sein, weil es der Ort ist, an dem ein Paar mal in Ruhe zusammen kontemplieren kann.

MD Vor ein paar Jahren haben wir in einem großen Kaufhaus die Schuhabteilung neu gestaltet und bewusst äußerst exklusive Sofas eingesetzt. Die Kundinnen waren begeistert, weil wir sie so schick wie nirgends sonst haben sitzen lassen. Das allein macht noch keinen Umsatz, aber erhöht die Verweildauer und die Atmosphäre.

4. Und woher kommt der Umsatz?

MD Wenn ich Geschichten und Erfahrungen einkaufen kann und nicht einfach nur austauschbare Ware, bin ich auch bereit, Geld dafür auszugeben. Das ist der Mehrwert des stationären Handels: Produkte erzählen von dem Ort, an dem ich sie gekauft habe, von dem Tag, an dem ich sie gekauft habe, von den Menschen, denen ich dabei begegnet bin und die mich beraten haben. Und es ist unsere Sache, all diese Aspekte erzählenswert zu gestalten.

SZ Wenn mehr Zeit und persönlicher Kontakt in etwas geflossen ist, ist es mehr wert, das zeigt sich auch im Museumsshop. Eines unserer beliebtesten Produkte ist unser „Royal Bee“-Honig, sortenrein aus Bienenstöcken vom Dach des Kunsthistorischen Museums. Wir produzieren um die 300 Kilo davon im Jahr und es verkauft sich trotz stolzem Preis wie verrückt. Warum? Weil es ins Gesamterlebnis eingebettet ist: Gebäude und Produkt erzählen voneinander.

Produkt und Ort erzählen voneinander. Stefan Zeisler

MD Wir verkaufen in Verbier eine Duftkerze mit dem Aroma von Tannenwäldern und Champagner, die auch wirklich nur bei uns Sinn macht – und eben darum ein absoluter Renner ist. Es gibt zwar unterschiedliche Typen von Geschäften, aber exklusive Produkte sind immer gut, am besten mit starkem Bezug zum Einkaufsort. Wenn neben dem Sortiment auch die Ausstellung auf der Fläche gut kuratiert ist, nimmt man dem Kunden viel Arbeit ab. Man ermöglicht es ihm, auf engem Raum möglichst viele besondere Sachen zu entdecken. Und das wird honoriert.