Dinge erschaffen, die für unsere Sinne relevant sind.

Vizona trifft Aerosoap (Agentur für Kommunikationsdesign), Niklas Reiners (Light Application Manager) & Prof. Dr. Gunnar Mau (Wirtschaftspsychologie)

Die menschliche Sinneswahrnehmung ist bunt, viel erforscht und doch noch voller Geheimnisse. Ließen sich vielleicht Lücken im stationären Handel schließen, indem wir die Sinne anders ansprechen als bisher?
Drei unterschiedliche Perspektiven haben wir für ein so unterhaltsames wie spannendes Gespräch zusammengeführt:

Konsumentenpsychologe Gunnar Mau, Lichtplaner Niklas Reiners und das Designerduo aerosoap diskutieren den aktuellen Stand der multisensorischen Forschung, Sinn und Unsinn von Licht-Standards und Ideen für einen Sinn-reichen Handel von Nizza bis Las Vegas.

Jeder von euch setzt sich auf unterschiedlichste Weise mit Sinneswahrnehmungen auseinander. Welcher Sinn ist der wichtigste für uns Menschen?

NR Vor allen anderen Sinnen soll laut Wissenschaft das Sehen unsere Wahrnehmung dominieren – mit einem Einflussgrad von über 80 Prozent. Es gibt aber so viele Situationen, in denen verschiedene Sinne miteinander konfrontiert werden! Ein unangenehmer Geruchsreiz kann eine angenehme, ruhige visuelle Stimmung durchaus konterkarieren. Viel wichtiger als die einzelnen Sinne ist wohl unser Rechenzentrum, das diese zusammenführt und verarbeitet.

GM Da stimme ich zu. Der wichtigste und weitreichendste Sinn, über den wir sehr frühzeitig und sehr schnell die meisten Informationen aufnehmen, ist das Sehen. Doch was uns im Alltag eigentlich leitet, ist die Multisensorik. Das merkt man spätestens dann, wenn die Sinne schlecht zusammenspielen: wenn man ein Eis schleckt, das ganz klar nach Schokolade aussieht, dann aber nach Kirsche schmeckt.

AE Warum der Sehsinn so im Vordergrund steht, liegt sicher daran, dass er der trainierteste ist. Das hat mit unserem medialen Umfeld zu tun. Es gibt eben kein Geruchsfernsehen, wir konsumieren den ganzen Tag lang übers Sehen.

In euren Projekten scheinen die visuellen Effekte zunächst im Vordergrund zu stehen.

AE Richtig. Aber oft machen wir Kommunikation im Raum, und da geht es immer um mehr: Wenn wir zum Beispiel mit Feuer arbeiten, dann haben wir Gerüche von Holz und Rauch, man hört das Knistern und wir berühren den Tastsinn durch die abstrahlende Wärme. Das Zusammenspiel von all dem macht es erst echt und erlebbar.

Wie viel wissen wir über den Einfluss der Sinne auf unsere Psyche, unsere Entscheidungen?

GM Sinneseindrücke haben eine unglaublich große Wirkung auf uns, aber es ist nicht so simpel, dass man an einer Stellschraube drehen und die beobachtbare Wirkung verallgemeinern könnte. Denn alle unsere Wahrnehmungen treffen in unserem Gehirn auf Vorerfahrungen, Motive und Ideen, Erwartungen und Hoffnungen. Daraus konstruieren wir dann eine subjektive Wahrnehmung – oder Bewertung – der Realität. Nehmen wir einmal den Geruch: Für die Forschung ist es sehr schwierig, einen zu finden, den jeder als grundsätzlich angenehm empfindet. Es gibt zwar einige mit einer hohen Trefferquote. Aber dann kommt einer der Probanden und sagt, die Probe erinnere ihn an das Parfüm seiner Exfreundin. Das muss nicht einmal bewusst passieren. Wir müssen uns also damit auseinandersetzen, wie die Sinneseindrücke an unsere individuellen
Erfahrungen andocken.

Wir sprechen dabei von den klassischen fünf Sinnen, oder?

GM Das sind eben die, welche für uns den höchsten Informationsgehalt besitzen. Aber dazu gehört zum Beispiel auch das Temperaturgefühl. Wenn ich von draußen aus der Kälte komme, kann ein Laden eine Oase der Wohlfühltemperatur bedeuten. Oder auch nicht: Wir haben im Lebensmittelhandel die Besuchswege bei den Tiefkühlwaren beobachtet und gemerkt, dass die Leute manchmal zurückgelaufen, regelrecht zurückgewichen sind. Das hat uns gewundert. Menschen gehen keine Wege zurück, sie gehen immer vorwärts. Was ist also passiert? Es war einfach unglaublich kalt, vor allem ästhetisch! Und damit auch die gefühlte Temperatur.

Woran können sich Store Designer und Retail-Strateginnen und -Strategen orientieren? Gibt es konkrete Hilfestellung aus der Forschung?

GM Es gibt etliche und große Studien, die sich dieser Frage widmen, und auch viele nützliche Ergebnisse. Ein Beispiel: In einem Getränkemarkt wurde der Besucherstrom beobachtet. Der Laden war voller aufmerksamkeitsheischender Installationen, Displays und digitaler Stelen, das ganze Kino. Aber wo die Menschen hinschauten, war nicht dort, wo sich etwas bewegt hat, denn alles hat sich bewegt, sondern auf einen analogen Aufsteller, der relativ ruhig und dunkel gestaltet war. Ergebnis: Wir können nur das kaufen, was wir wahrnehmen. Und wir nehmen nicht automatisch wahr, was am lautesten ist, sondern was sich abhebt von den anderen Sinneseindrücken.

AE Es sind tatsächlich die ruhigen Sachen, die oft am besten wirken. Das haben wir auch an unserer ‚Bubble Wall‘ beobachten können, einem Projekt für die Adobe Creativity Conference in Las Vegas. Wir wussten, in dieser Stadt ist alles bunter, lauter, größer, heller. Die einzige Möglichkeit, zu wirken, bedeutete, ruhig zu werden. Unser Stand auf der Messe war darum komplett schwarz, sehr reduziert, und das hatte seine Wirkung. Die Leute sind stehen geblieben, weil es ein Ruhepunkt war. Im nächsten Schritt wollten sie dann auch erfahren, wie die Luftblasen in Form eines Adobe-Logos aus der schwarzen Wand hervortreten.

GM Genau, hier ist etwas, das anders ist, und das schafft Interesse. Natürlich sendet ihr damit auch Botschaften aus: Schwarz gilt als elegant und „premium“, ist weniger verspielt. Eine Farbe, die zum Genießen einlädt.

NR Ich habe gerade daran gedacht, wie ich einmal in der Altstadt von Nizza unterwegs war und eine Teigrolle aus Olivenholz gekauft habe, sicher zum Doppelten vom üblichen Preis. Der Laden war klein und eigentlich zu dunkel. Doch dadurch war er auch sehr ruhig und ich wurde offen für meine anderen Sinne. Am Tresen wurde das Nudelholz sanft und geräuschvoll in Seidenpapier eingepackt – was ich als Handarbeit, als ein persönliches Für-mich-Verpacken erlebt habe. Die Gefühle dabei kamen schon nah an ASMR* heran. Erst die bewusst gestaltete Zurückhaltung des Lichts hat diese Empfindungen ermöglicht. Was im Übrigen keine neue Methode ist,
sondern in vergangenen Jahrhunderten ein wichtiger Gestaltungsfokus – in nahezu allen Kulturen.

* Autonomous Sensory Meridian Response bezeichnet ein als angenehm empfundenes, über den Körper ausstrahlendes Gefühls des Kribbelns und wird durch bestimmte akustische und optische Reize ausgelöst. 2021/22 war es der weltweit dritthäufigste Suchbegriff auf YouTube.

Gibt es bei der Lichtgestaltung im Retail nicht auch Standards, die man über die Jahre herausgefunden hat? Was sind die „Untouchables“, an denen du nicht vorbeikommst?

NR Es gibt diese scheinbar in Stein gemeißelten Fakten, die auch durch Forschung begründet wurden. Aber am Fokus müssen wir noch viel arbeiten. Es wurde zum Beispiel festgelegt, dass im Kassenbereich eine Beleuchtungsstärke von 500 Lux gebraucht wird. Das stimmt zwar, sonst kann ich dort nicht gescheit sehen, aber die Zahl sagt noch nichts darüber aus, wie die Lichtleistung entsteht, wie sie wirkt, welche Qualität und Farbe das Licht hat. Mein Auge passt sich außerdem permanent an. Das muss man berücksichtigen und kann es auch bewusst einplanen.

Hast du ein Beispiel?

NR Wir durften in einem Gartencenter einen Nebenraum für exotische Sammlerpflanzen ausleuchten und haben dafür bewusst ein knallpinkes Licht verwendet. In diesem Raum adaptieren sich die Augen innerhalb einer halben Minute, danach nehmen Besucher ihn nicht mehr pink, sondern nur noch zartrosa wahr. Die nächste Überraschung erwartet sie, wenn sie wieder rauskommen. Die ganze Umgebung erscheint plötzlich in einem Grünton – was perfekt zum Konzept passte.

GM Handlungsempfehlungen oder Kriterien sollten wir eben auf Basis der Psyche festlegen und nicht als harte Fakten formulieren. Gerade im Handel setzen wir uns wesentlich mehr mit den Dingen auseinander, wenn uns die Umgebungen ein gutes Gefühl geben. Wir sind auch bereit, mehr Geld auszugeben – zumindest steigt die statistische Wahrscheinlichkeit dafür –, obwohl ich das gleiche Produkt fünfzig Meter weiter billiger bekommen könnte. Und das sogar wissentlich. Wir zahlen das Wohlfühlgefühl mit.

AEROSOAP
Logos explodieren, Markenobjekte schweben, Messestände lösen sich auf: Die Kommunikationsdesigner Thomas Wirtz und Frédéric Wiegand lernten sich an der Hochschule Düsseldorf kennen. Gemeinsam gründeten sie das Kreativlabor aerosoap, um Projekte „an der Schnittstelle von Kunst, Design und Naturwissenschaft“ zu realisieren. Die Erfahrungen aus ihren experimentellen Arbeiten multiplizieren sie in Lehre, Forschung und Workshops.

Was ist das Wohlfühlgefühl wissenschaftlich betrachtet?

GM Gefühle sind ja etwas Subjektives, doch für die meisten Menschen bedeutet es einen Zustand, in dem ich meine Aufmerksamkeit sinken lasse, meine Schotten aufmachen kann. Es sagt mir: Alles ist gut. Ich werde weniger kritisch, bin auch bereit, einem Händler, einer Händlerin zu glauben.

Das klingt nach tiefer Gelassenheit. Suchen Menschen nicht immer auch etwas Neues, Aufregendes?

AE Der wichtigste Teil unserer Arbeit ist es jedenfalls, ein Irritationsmoment zu erzielen. Das tun wir, indem wir Materialitäten in einen anderen Kontext setzen. Was passiert, wenn ich etwas schweben lasse, was sonst nicht schwebt, oder wenn ich eine Schrift brennen lasse? Leute haben ein anderes Erlebnis, wenn sich Sinne verschieben, sie an andere Erfahrungsmuster stoßen oder in Randgebiete anderer Sinne geraten.

GM Es ist ein Aushandeln. Fast alle Menschen haben ein exploratives Motiv, sie wollen ihren Wirkungskreis vergrößern, wie die Psychologen sagen. Dinge kennenlernen, die sie noch nicht kennen. Darum wirken Neuigkeiten auf uns. Das Problem ist, wir mögen neue Dinge nicht! Wir mögen Dinge, die wir wiedererkennen. Ein Musikproduzent hat mir mal gesagt, für einen Hit brauchst du achtzig Prozent Bekanntes für das Wohlfühlen und zwanzig Prozent machst du neu, damit es nicht langweilig ist. Sanfte Abweichungen von einem „Prototypen“ sorgen dafür, dass Dinge auffallen und wir sie trotzdem noch gut finden.

Wie löst ihr bei aerosoap diesen schmalen Grat? Lassen sich die Menschen gern auf eure räumlichen Installationen ein, in denen ihr ja auch einladet, Dinge selbst zu steuern?

AE Ein gewisser Spieltrieb war überall da, wo wir bisher gearbeitet haben. Die Hemmschwellen sind aber regional sehr unterschiedlich. Darauf wurden wir auch bei dem Projekt für Las Vegas vorbereitet. Der Auftraggeber bat uns: „Bitte gebt darauf acht, dass wir hier nicht die deutsche Zurückhaltung haben. Amerikaner sind etwas offensiver, wenn da etwas zum Ausprobieren ist!“ Das war dann auch sehr auffällig.

Brauchen auch eure Kunden manchmal Ermutigung, sich auf eure Ideen einzulassen?

AE Unsere allererste Aufgabe ist es, den Mut beim Kunden zu fördern und durch die Projektphasen zu halten. Andererseits kommen die Leute ja extra zu uns, um etwas nicht Dagewesenes zu probieren. In der ersten Experimentierphase spielen wir darum bewusst mit der Kraft des Zufalls, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen oder neue Wege zu finden.

NR Habt ihr nicht auch Schwierigkeiten dabei, die Effekte für die Auftraggeber vorab zu visualisieren? In der Lichtplanung wird über die Qualität von Entwürfen leider oft am Bildschirm entschieden. Größenverhältnisse und Lichteindrücke gehen aber selbst im 3DProgramm zu großen Teilen verloren. Bei ansorg haben wir darum einen Lichtraum, in dem wir die räumliche Situationen quasi in natura nachbauen und den Kunden vorführen.

AE Ja, das ist echt eine Herausforderung. Oft entstehen unsere Ideen ja erst im Labor, wenn wir uns mit der Materie auseinandersetzen, und die chemischen Prozesse sind auch nicht visualisierbar. Darum geben wir nur in Ausnahmefällen mal mit Renderings einen Vorgeschmack. Sonst nutzen wir Prototypen. Die schicken wir durch die Testphasen und filmen dabei, um zu zeigen, ob eine Idee funktioniert und wie es aussieht. Später testen wir am liebsten an Ort und Stelle unter realen Verhältnissen.

NIKLAS REINERS
Welche Lichtanwendungen passen zur anvisierten Customer Journey? Dieser Frage geht Niklas Reiners als Light Application Manager bei einem renommierten Hersteller von Lichtlösungen und Leuchten für den
Einzelhandel nach. Und wundert sich, warum man bei diesem wichtigen Medium nicht viel individueller Maß nimmt. Die menschliche Wahrnehmung von Licht hat er schon im Studium erforscht. Heute lehrt er selbst im Studiengang Retail-Design der Hochschule Düsseldorf.

Ihr experimentiert mit Chemikalien, Dingen und Konsistenzen, die sehr ungewöhnlich sind. Gibt es Materialien, bei denen ihr euch fragt, warum man in Architektur oder Markeninszenierung noch nie mit ihnen gearbeitet hat?

AE Schleim.

GM Schleim?

AE Ja, wir haben viel mit elektrisch leitfähigem Schleim experimentiert und ihn als Interface genutzt, um Licht und Sound zu modulieren. Wir haben auch ein Tor gebaut, das sich nach dem Durchgehen selbst rekonstruiert. Unsere Rezeptur hat eine ganz großartige Viskoelastizität, der Schleim bewegt sich zwischen fest und flüssig. Wenn man sieht, was man mit dem Material machen kann, schwindet auch der eklige erste Eindruck und die Leute suchen die Berührung. Wir finden wirklich, dieser Stoff hat Potential.

GM Das Wort „Schleim“ hilft dabei natürlich nicht, es klingt nicht attraktiv. Das liegt aber wieder an unseren Vorerfahrungen. Wenn man sich von diesen lösen kann und euch beiden zuhört, hat das Material eine ganz andere Faszination.

Wir können das Material ja ‚Elektrocreme‘ nennen …

GM Ein gutes Beispiel dafür, wie wir über Worte Sinneswahrnehmungen im Kopf nachbilden und beeinflussen können.

Die Irritation bliebe in der räumlichen Begegnung natürlich erst einmal erhalten. Was uns zu der Frage bringt, ob wir das Irritationsmoment in der Customer Journey gebrauchen können – und an welcher Stelle.

GM Auf jeden Fall brauche ich solche Momente! Handel und Einkaufen sind stark habitualisierte Aktivitäten. Ob in der Stadt oder dann im Laden: Ich gehe tendentiell den gleichen Weg, an die gleichen Regale, mache immer das Gleiche. Weil es uns kognitiv entlastet. Für eine Marke, die als neu wahrgenommen werden will, ist das natürlich schwierig. An der Stelle also, an der ich als Händler möchte, dass Menschen nicht so handeln, wie sie immer handeln, da hole ich den Schleim rein!

NR Apropos richtige Zeit und richtiger Ort: Eingangssituationen sind oft ein absoluter Overflow für meine Sinne. Wenn ich zu Aktionszeiten in ein großes Kaufhaus gehe, werden alle meine Sinne ad hoc beeinträchtigt. Ich bekomme eine neue akustische Kulisse, mein olfaktorisches System springt an, denn plötzlich riecht alles anders, mein taktiler Sinn wird durch die Luftschleuse irritiert. Der Boden unterscheidet sich von den Gehwegplatten draußen und der ohnehin schon helle Innenraum wird oft zusätzlich sehr hell ausgeleuchtet. In der Fernwirkung mag dieses Konzept Sinn haben, aber beim Eintritt ist es genau das, was ich nicht will: Ich fühle mich, sozial betrachtet, auf einer Bühne. Dabei ist das doch ein neues Gefüge, in das ich hineinsteige, und dort will ich mich erstmal orientieren. Zum Beispiel will ich wissen, ob ich willkommen bin.

GM Dieses Problem kann man wirklich nicht oft genug betonen. Was man verstehen muss: Ein Kaufakt ist eine Reise durch ein Geschäft. Und Menschen, die ein Geschäft betreten, kommen schon mit einer hohen Aktivierung. Das Ziel sollte nicht sein, sie immer mehr zu aktivieren, denn dann greift das berühmte Yerkes-Dodson-Gesetz. Nach einer erforderlichen Aktivierung beginnt schnell der Leistungsverfall …

Nach fest kommt locker?

GM Genau, irgendwann ist der Kunde „tilt“ und will nur noch irgendwie seinen Einkauf durchziehen. Das Ziel am Anfang ist eher, den Fokus auf bestimmte Produkte oder Botschaften zu lenken. Im Verlauf der Journey sinkt meine Aktivierung wieder. Darum denken viele, sie müssten jedes Regal zum Erlebnis machen,
um die Aktivierung oben zu halten. – Das setzt aber eine Aufwärtsspirale in Gang: Man müsste immer noch eins draufsetzen, irgendwann ist der Kunde erschöpft. Die Forschung zeigt, dass man Anspannung und Entspannung mixen sollte, auch im Design.

Sensorisch orientiertes Retail Design kann in sehr unterschiedliche Richtungen laufen. Die einen folgen derzeit dem „Hyperphysical“-Ansatz, tauchen Flagship Stores ganz in Blau oder kleiden sie mit pinkem Fell aus und erzeugen so eine hochartifizielle Ästhetik. Andere hören eher den Ruf nach mehr Natürlichkeit und arbeiten mit Herstellern zusammen, deren Materialinnovationen die Natur in den Innenraum holen. Wann empfinden wir etwas als natürlich – und lohnt es sich damit in Verkaufsräumen zu spielen?

NR Auch hier werden unsere nicht-visuellen Sinne immer relevanter. In den Oberflächen von Organoid riecht man zum Beispiel das Heu und die Blumen, die verpresst wurden. Wenn ich über einen echten Dielenboden laufe, nehme ich die Elastizität des Holzes wahr. Ich spüre auch, ob ein Regal nur natürlich beschichtet oder aus dem vollen Material ist. Es hat einfach eine andere Ausstrahlung auf unsere Sinne. – Man kann aber auch beim Licht anfangen. Die heute oft eingesetzten Leuchten mit kleinen LED-Punkten sind zum Beispiel absolut unnatürlich. Sie produzieren ein sehr hartes Licht und erzeugen zudem unnatürliche Mikroschatten. Dieser Situation kann ich dann nicht authentisch-natürlich vertrauen. Natürlicher arrangiert man Licht als Punktlichtquellen, die – ähnlich dem Sonnenlicht – eine radial harmonisch verlaufende Abstrahlung generieren. Oder in Verläufen, etwa in Arkaden, die sanft ineinander übergehen. Oder man integriert bewusst das sich stetig verändernde Tageslicht. Gerade mit der Morgensonne können spektakuläre Effekte entstehen.

Das ist eine Palette an Möglichkeiten, die sicher ihren Preis haben …

NR Es ist nur eine bewusstere konzeptionelle Planung nötig, in der Anschaffung und im Unterhalt spart man sogar. Denn punktuelles Licht ist akzentuierter, ich lenke das Licht dorthin, wo ich es wirklich brauche, und brauche dadurch insgesamt weniger Strom. Von der Nachhaltigkeit der flexibel ausrichtbaren Lösung ganz zu schweigen. – Mit Spots kann ich außerdem mehr Kinetik auf die Fläche bringen, wenn ich sie kreativ einsetze …

Bewegung durch Licht?

NR Ja, das brauche ich für eine angenehme Natürlichkeit. Wenn möglich, richte ich Strahler gern direkt über einer Pflanze aus oder ziehe Licht- und Stromschienen mitten durch die Begrünung, damit ich die Projektion der natürlichen Schatten auf die Ladenfläche bekomme. Und sobald etwas Zugluft da ist, bewegen sich die Schatten und ich bekomme das kinetische Erlebnis dazu.

GM Ich frage mich, warum Geschäfte ihre Umgebung so wenig einbeziehen. Jahrzehntelang galt es, alles statisch zu machen und die Läden abzuschotten von der Außenwelt, damit sich die Menschen nur auf die Produkte konzentrieren. Jetzt können die aber alles online bestellen – und erschreckend selten geben ihnen
die Läden einen Grund, noch vorbeizukommen. Dabei zählt das Gesamtergebnis, auch welches Gefühl ich habe, wenn ich das Personal sehe. Ob mein Sinn für Gastlichkeit angesprochen wird.

PROF. DR. GUNNAR MAU
Welchen Einfluss haben die Sinne auf unsere Kaufentscheidungen? Wirtschaftspsychologe Gunnar Mau hat dieser und verwandten Fragen eine stationsreiche akademische Karriere gewidmet, promovierte zu Emotionen bei Online-Einkäufen, ist Mitgründer eines Marktforschungsunternehmens. Als Professor für Angewandte Psychologie an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport in Berlin forscht er unter anderem zu ‚Multisensorik im stationären Handel‘ und war 2021 Mitherausgeber eines gleichnamigen Themenbands.

In Online-Shops werden Kundinnen und Kunden auf optische und auditive Wahrnehmungen begrenzt. Trotzdem ist es für viele bequemer, als aus dem Haus zu gehen. Vielleicht wird der Wert der multisensuellen Erfahrung auch überbewertet?

GM Die Frage ist berechtigt. Ich kann zwar online nicht alles abbilden, ich verliere Sinnesreize und damit auch Informationen. Aber ob das nützliche Informationen sind, welche ich verliere, liegt in der Hand der Händlers. Die Geruchslosigkeit des Online-Handels ist ja oft sogar von Vorteil. Sie müssen sich also unter anderem die Frage stellen, wie sie den Geruchssinn strategisch nutzen können.

NR Es muss etwas geben, das mich fasziniert, das mich wirklich tangiert. Keine Reizvielfalt um der bloßen Effekte willen. Ich habe von dem Nudelholz in Nizza erzählt. Da hat etwas gekribbelt, eine gewisse Spannung war da, ich wollte fokussiert bleiben. Und jetzt habe ich ein Produkt zu Hause, das mich bei jeder Benutzung mit diesem Ort und seinen Reizen verbindet – und das ich darum sogar einem anderen Nudelholz vorziehe, das eigentlich besser funktioniert.

GM Wie wichtig die Sinnesvielfalt ist, sieht man auch daran, wie sehr der digitale Handel bemüht ist, die Sinnesarmut oder -reduktion mit Worten, Bildern und Sounds aufzuheben. Das alles funktioniert ganz gut, wenn sich Menschen darauf einlassen, ist aber nicht annähernd ein Ersatz. Studien beweisen: Je geringer die Distanz zum Produkt, desto stärker die Emotionalität und größer die Wahrscheinlichkeit, dass ich es kaufe. Der stationäre Handel sollte sich also Gedanken machen, wie man die Multisensorik forcieren kann. Der Vorteil gegenüber dem Online-Handel wird zu wenig ausgespielt.

Welche Möglichkeiten seht ihr umgekehrt, für die Gestaltung des Einkaufserlebens von der digitalen Welt zu lernen, den Spielraum technisch zu erweitern?

AE Grundsätzlich müssen wir unterscheiden zwischen Digitalisierung und Digitalität: Und Digitalität kann man stationär sehr gut nutzen, zum Beispiel für eine Fernsteuerung, um eine Performance zu aktivieren – die mich vielleicht mit anderen Kunden in Kontakt bringt. Es muss mich organisch weiterbringen in dem, was ich erleben will.

GM Häufig begrüßen Läden ihre Besucher jetzt mit digitalen Stelen – das wirkt manchmal, als müssten sie zeigen, dass sie auch „digital“ können. Es geht aber nicht darum, Technik zu präsentieren. Wir müssen die Kunden mitnehmen auf eine Reise und andocken an ihre Erfahrungen. Das macht man am besten so, dass sie gar nicht merken, dass sie von analog zu digital wechseln.

AE In unserer Arbeit sind wir oft limitiert durch das, was in einem Raum wirklich planbar ist. Darum ist Film so verlockend. Da ist, auch in der Experimentierphase, grundsätzlich mehr möglich, gerade weil der Betrachter vor Ort eine größere Distanz zur Sache hat. – Und trotzdem: Die größte Explosion auf einem Bildschirm hat manchmal eine geringere Aufmerksamkeitswirkung, als wenn irgendwo in einer dunklen Ecke des Raums eine kleine, grüne Kerze brennt. Echten Inszenierungen im Raum kann sich der Rezipient nähern, kann sie erfahren, sie sich selber groß machen.

GM Die reale Kerze hat eben eine viel höhere sensorische Informationsrate. Ich höre das Knistern. Ich rieche den Duft. Ich spüre die Wärme. Und das passt zu der Lage, in der ich bin. Es bekommt eine höhere Relevanz für mich – und Relevanz gewinnt.