Transform and rollout!

Kennen Sie das erfolgreiche Film- und Spielzeug-Franchise »Transformers«? Fahrzeuge, die sich im Lenkradumdrehen in riesige Roboter verwandeln? Der offizielle Schlachtruf dieser Autobots könnte auch zum Motto Ihrer Digitalstrategie werden: «Transform and roll out!»

Warum, das haben Szenografin Charlotte Tamschick und Digitalberater Florian Rotberg für uns diskutiert. Siebenmal geben sie gemeinsam Antwort auf die drängendsten Fragen: Welche Technologien stärken unseren Laden, welche sind Rohrkrepierer – und warum inszeniert man heute am besten multimedial?

Das Fazit: Nicht nur für ein emotionales Ambiente, sondern auch fürs sogenannte Guided Selling gibt es schon jetzt zahlreiche Möglichkeiten: von der Passantenerfassung am Schaufenster bis zur vollautomatischen Preisanzeige. In Zeiten von Corona hilft digitale Technik außerdem, Distanz zum Produkt und zu anderen Besuchern zu halten.

Charlotte Tamschick (Partner und Kreativdirektorin Tamschick Media+Space, Berlin)

Für Charlotte Tamschick könnten Kaufräume wie aufregende Ausstellungen funktionieren. Seit 1998 ist sie international als Szenografin tätig und repräsentierte 2007 bis 2009 Atelier Brückner in Berlin. Mit ihrem Büro TAMSCHICK MEDIA+SPACE entwickelt sie heute Medien im Raum, Fassaden- und Architekturbespielungen für Museen, Showrooms, Galerien und Messen.

Florian Rotberg (Inhaber Invidis Consulting, München & Managing Director des Digital Signage Summit Europe)

Digitale Technologien sieht er vom Retail für noch viel zu wenig erkannt und angewendet. Darum und weil er gern in die Zukunft schaut, bietet sich Florian Rotberg als kompetente Mitte zwischen Technologieunternehmen und Handel an. Seine Firma invidis consulting zählt zu den führenden Beratungen für Digital Signage und digitale Out-of-Home-Werbung in Europa.

1. DIGITAL MACHT ANPASSUNGSFÄHIG.

FR Es gibt viele Gründe, im Laden digitale Medien zu nutzen. Der wichtigste ist die Anpassbarkeit: an Kundschaft, Tageszeiten oder Kollektionen. Auf der einzelnen Fläche oder auf der ganzen Welt kann ich per Knopfdruck zur gleichen Zeit den Content anpassen, eine Kampagne starten oder Preise ändern – und dadurch Verluste über falschausgezeichnete Waren verhindern.

CT Für die Szenografie zahlt sich die Flexibiltät auch aus: Digitale Inhalte kannst du je nach Saison und Situation austauschen, ohne den ganzen Raum umzubauen. Du kannst ein immersives Erlebnis erzeugen, ohne dafür erst ein Kolosseum bauen zu müssen.

2. DIGITALITÄT IST EIN GEMEINSCHAFTSPROJEKT.

FR Sobald eine Anwendung heute digital ist, muss sie allerdings Live-Daten haben. Und sie muss an deine Waren- und Kundenmanagementsysteme angebunden sein. Denn Kunden erwarten, dass digitale Inhalte, vom Leitsystem bis zum Preisschild, aktuell sind. Dafür müssen alle Abteilungen zusammenarbeiten!

Die Besuchererfahrung lebt von ganzheitlichen Vermittlungsansätzen. Charlotte Tamschick

CT Das gilt nicht erst im Betrieb, sondern schon bei der Entwicklung. Manchmal wird Digitales nur als Effekt behandelt oder am Ende eines fertigen Konzepts noch in irgendeine Ecke gepackt. Das kann man sich sparen. Die Besuchererfahrung lebt von ganzheitlichen Vermittlungsansätzen. Dafür muss man die Planer und Gestalter aus jedem Bereich gleich zu Beginn an einen Tisch holen.

FR Für Multi-Brand-Geschäfte ist das eine Herausforderung: Marken entwickeln ihre visuellen Konzepte so, dass sie überall auf der Welt gleich funktionieren. Das tun sie als Einzelfall auch, aber nicht im Raum mit hundert anderen Marken. Gerade in Beautyabteilungen sind wir darum oft überfordert, multisensual, analog und digital. Die Lösung sind hier die Betreiber: Kaufhäuser müssten sich wieder mehr als Sortimentsgestalter verstehen und auch für Multimedia ganzheitliche Konzepte vorgeben.

3. DER STORE SELBST WIRD ZUM TRANSFORMER.

CT Im Museum gibt es einen Trend, unterschiedliche Lauf- oder Entdeckerwege für verschiedene Alters- und Zielgruppen anzulegen. Davon bin ich kein Freund. Räume, Ausstellungen und auch Stores sollten so gestaltet sein, dass sie für eine möglichst breite Gruppe funktionieren.

FR Darum glauben wir an den adaptiven Store. Physischer Retail wird nur überleben, wenn sich der Laden an den Kunden anzupassen lernt. Warum investieren Luxusmarken in gute Verkäufer und stellen einen Begrüßer an den Eingang? Sie scannen die Besucher auf Geschlecht, Alter, Style – und schließen sofort eine individuelle und sensible Beratung an. Diese Erfahrung können wir – in allen Segmenten – durch digitale Technik erweitern. Eine Hilfe werden dabei zukünftig Erkennungssoftwares sein. Sie geben ihre Daten ans Back-End weiter und die Ladentechnik passt automatisch Licht, Musik, Leitsysteme und Wareninformationen an.

4. WIR WOLLEN ES INDIVIDUELL UND UNSICHTBAR.

CT Das finde ich sehr spannend. Wir könnten das ganze Ambiente einfach über Präsenz und Bewegung anpassen, ohne dass irgendjemand aktiv einen Schalter umlegen muss. Sichtbare Technik, die zu einer Interaktion aufruft, baut unserer Beobachtung nach größere Distanz auf. Es ist sehr wichtig, dass die Grenzen zwischen dem Besucher und der Themenwelt, die er betritt, so wenig wie möglich materiell greifbar sind.

Personalisierung auf Basis von Gesichtserkennung is ein No-go. Florian Rotberg

FR Es wird auch möglich sein, dass Sensoren sogar meine Laune erkennen. Wir haben dazu bereits mit Eyetracker-Erkennungssoftware experimentiert. So etwas wird gut angenommen. Personalisierung auf Basis von Gesichtserkennung ist auf der anderen Seite ein No-go. Kunden wollen es zwar individuell, aber nicht zu persönlich.

5. EINKAUFEN HEIßT EINTAUCHEN.

FR Wir begleiten so eine Ambiente-Steuerung bereits etwa im Duty Free Shop am Flughafen von Dubai. Dort weiß die Fläche immer genau, aus welcher Stadt der letzte Flieger kam, und passt Licht, Duft und Musik an die Arrivals an. Ein Geschäft in der Fußgängerzone muss eine andere Methode finden, die Kundschaft zu clustern.

CT Wenn das gelingt, können wir ganze Einkaufsdramaturgien mit Produktinszenierungen aufbauen, die selbst auf einzelne Besucher reagieren. So kann auch ein Retailer Geschichten erzählen, in die Besucher mit allen Sinnen eintauchen – zum Beispiel durch begehbare visuelle Hörspiele, wie wir sie schon für einige Museen realisieren.

FR Umfragen zeigen, dass sich Kunden viele Hintergrundinformationen wünschen: zur Marke, zu den Produktfeatures, Materialien oder Inhaltsstoffen und den ideellen Grundsätzen des Unternehmens. Besonders für die Fridays-for-Future-Generation ist diese Aufklärung superwichtig.

CT In Museen ist das ähnlich. Darum binden wir die Objekte in den kulturhistorischen Hintergrund ein. Ich kann eine Vase ausstellen, ich kann aber auch den Raum zeigen, in dem sie stand, und das Leben der Leute, die diesen Raum bewohnten. Von diesem kontextgebundenen Inszenieren kann sich der stationäre Handel etwas abschauen: Emotional erzählen, was hinter dem Produkt steckt. Seine Seele sichtbar machen.

6. VIRTUAL IS DEAD, LONG LIVE THE APP!

FR Im Retail wird dafür bereits mit Augmented Reality (AR) experimentiert, sowohl für die informative Ebene als auch für kleine Geschichten, die dich selbst zum Beispiel in den Produktkontext hineinprojizieren. Hologramme und 3D-Bildschirme andererseits sind ganz schwierig, weil sie für eine hohe Aufenthaltsdauer gemacht sind. Und Virtual Reality unterbricht meistens viel zu stark den Beratungsprozess, denn mit Auf- und Abziehen der Brille tauchst du in eine andere Welt ein.

CT Darum ist AR so interessant: Der Bezug zur Realität bleibt erhalten und es funktioniert aus allen Perspektiven – beziehungsweise immer aus deiner eigenen.

FR Die größte Herausforderung ist, dass du eine App brauchst. Die zu installieren, ist immer noch eine große Barriere.

CT Das wird sich aber verändern. Wir gewinnen jetzt schon viele Wettbewerbe mit Konzepten für Museen, die alle eine App einschließen, die du vor dem Museumsbesuch installieren musst. Warum sollte das nicht auch im Retail funktionieren? Vor allem wenn mancher Shoppingausflug bereits so geplant wird wie ein Galeriebesuch …

7. DIGITAL MACHT SOZIAL.

FR … und ebenso inszeniert wird! Ein großer Fast-Fashion-Anbieter hat Umkleiden in seinen Filialen so umgebaut und vergrößert, dass man sie mit seiner ganzen Clique für eine bestimmte Zeit buchen kann. Der Fitting Room wird zur Bühne, der Einkauf zur Party, unterstützt durch ein paar individualisierbare multimediale Features. Das ist ein Riesenerfolg – weil es ein soziales Erlebnis ist.

CT
Ich denke, Läden könnten je nach Branche noch mehr mit spielerischen Formaten experimentieren. Im musealen Bereich konnten wir selbst sperrige politische Themen einem jungen Publikum vermitteln, indem wir die Gäste zu Akteuren und Gestaltern werden ließen.

FR
Wir dürfen nur nicht vergessen, dass in der Corona-Zeit und auch danach alles mit mehr Distanz funktionieren muss. Laut einer Erhebung aus dem Reise-Retail drosseln 62 Prozent der Leute wegen der Infektionsgefahr ihren Kontakt zu Mitarbeitern.

CT Das Erlebnis kann ja schon im Außenraum beginnen, zum Beispiel vor dem Schaufenster. Hier sehe ich das größte Entwicklungspotenzial für den Einzelhandel, multimedial zu erzählen und auf seine Produkte aufmerksam zu machen – mit Musik, Bewegtbild … und natürlich Online- Anbindung. Im realen Raum wird der Einzelne angesprochen, über die Online-Community wird er mit einer Gruppen-Experience verbunden und überwindet die räumlichen Grenzen, die wir zurzeit ziehen müssen. So können wir auch die soziale Erfahrung des Einkaufens erhalten.